Was unter der Oberfläche liegt …

© Ariadne

Wer sich schon etwas längerer im schattigen Dunstkreis der kriminellen Gasse herumtreibt, wird festgestellt haben, dass es sich bei mir nicht (mehr) um den klassischen Novitäten-Leser handelt, der sich sofort auf die aktuellsten Titel stürzt, was wiederum mehrere Gründe hat.

Zum einen genieße ich es nach meiner Zeit als Buchhändler nicht mehr terminlich unter Druck zu stehen, zum anderen gibt es dort draußen inzwischen so viele gute Blogs, dass eine weitere Rezension zu ein und demselben Buch dann eher eine geringere Aufmerksamkeit zuteil wird – zumal sich diese Besprechungen nicht selten inhaltlich überschneiden. Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass ich die Neuveröffentlichungen und ihre Einordnung durch die hiesigen Kritiker des Feuilletons und der Bloggergemeinde nicht verfolge. So ist mir die hohe positive Resonanz zu Tawni O’Dells „Wenn Engel brennen“ nicht verborgen und nachhaltig in Erinnerung geblieben, was nun auch Anlass war, mit etwas zeitlicher Verzögerung, selbst die Lektüre in Angriff zu nehmen.

Schon die Hintergrundgeschichte zur Autorin liest sich durchaus spannend, war doch auch ihr Weg wie der so vieler ihrer Kollegen und Kolleginnen ein anfangs extrem steiniger. Geboren und aufgewachsen in Indiana, Pennsylvania – übrigens im selben Ort wie der Schauspieler James Stewart – war sie das erste Mitglied ihrer Familie, das aufs College ging, um dann später an der Northwestern University ihren Abschluss in Journalismus zu machen. Einem Berufsfeld, dem sie jedoch letztlich wenig abgewinnen konnte, weswegen sich letztlich lieber dem Schreiben von Büchern widmete. Es begann eine persönliche Odyssee. Über dreizehn Jahre hinweg schrieb O’Dell sechs Romane, sammelte dabei über dreihundert Absagen seitens der Verleger, bevor ihr (bisher unübersetztes) Debütwerk „Back Roads“ im Jahr 2000 schließlich doch veröffentlicht und – vor allem dank der Lobpreisungen der bekannten Talkmasterin Oprah Winfrey – zu einem großen Erfolg wird. Seitdem folgten fünf weitere Romane aus ihrer Feder, wobei ihr aktuell letzter, das vorliegende „Wenn Engel brennen“, nun ihren ersten Versuch darstellt, auch im Genre des Kriminalromans Fuß zu fassen. O’Dell, die lange Zeit in Chicago lebte, kehrt dafür, wie im echten Leben, zurück in die alte Heimat.

Das westliche Pennsylvania, die kleine (fiktive) Geisterstadt Campbell’s Run. Hier, einstmals eine Region in der vor allem der Bergbau und die Stahlindustrie florierte, bestimmen heute nur noch Ruinen und Industriebrachen das landschaftliche Bild. Kohle wird seit langer Zeit nicht mehr abgebaut, die Investoren haben sich längst aus dem Staub gemacht, welcher jetzt die verfallenen Gebäude bedeckt. Geblieben ist allein die Armut der Bevölkerung, die, weitestgehend arbeitslos, ein trostloses Dasein im so genannten „Rust Belt“ der USA fristet. Campbell’s Run selbst mussten sie verlassen, brennen doch unterirdisch immer noch viele der alten Kohleflöze – unerreichbar für irgendwelche Gegenmaßnahmen, weswegen ein ganzer Landstrich inzwischen zur gesperrten Zone erklärt wurde. Gemeinsam mit den giften Gasen, welche überall aus den Felsspalten des zerklüfteten Bodens aufsteigen, ersticken sie jegliches Leben im Keim. Doch die Leiche, zu der die fünfzigjährige Polizeichefin des Nachbarorts Buchanan, Chief Dove Carnahan, gerufen wird, wurde weit brutaler aus eben diesem Leben gerissen.

Bei der Toten handelt es sich um die siebzehnjährige Camio Truly, der gewaltsam der Schädel eingeschlagen wurde, um sie anschließend in eine Decke zu hüllen, mit Benzin zu übergießen und in einem der schwelenden Erdlöcher anzuzünden. Carnahan, die mit den wenigen Kollegen ihres Countys sich sonst eher mit pöbelnden Säufern oder Schlägereien herumschlagen muss, ist angesichts dieser Grausamkeit überrascht. Zeitgleich weckt die Art und Weise, wie Truly zu Tode kam, aber auch unerwünschte Erinnerungen, weswegen sie fast froh ist, dass der Fall noch am Tatort von den zuständigen Troopern unter der Führung von Detective Corporal Nolan Greely übernommen wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass Carnahan nicht ihre eigenen Ermittlungen anstellen will. Camio stammt aus dem berüchtigten Truly-Clan, einer in Buchanan berüchtigten Familie, angeführt von der aggressiven Matriarchin Shawna Truly. Und die hat mit Camios Freund, einem Sohn aus gutem, bürgerlichen Hause, den vermeintlichen Mörder längst ausgemacht. Carnahan muss all ihre Erfahrung einsetzen, um die Mauer des Schweigens zu durchdringen und kämpft dabei auch noch an einer weiteren Front, denn während sich die Situation im dem kleinen Ort mehr und mehr zuspitzt, holt sie plötzlich auch die eigene familiäre Vergangenheit wieder ein …

Schon immer liebe ich Whodunits. Ich wollte die Kleinstadtfiguren, für die ich berühmt bin, und ihren Alltag mit den dramatischen Twists und der Spannung des Genres verknüpfen.“

So wird Tawni O’Dell in Else Laudans Vorwort zu „Wenn Engel brennen“ zitiert. Und ich finde es durchaus wichtig, diese Aussage im Hinblick auf die Bewertung dieses Buches zu berücksichtigen, zumal in überproportional vielen Besprechungen dieser Titel mit dem Prädikat „Country Noir“ einem Subgenre zugeordnet wurde, welches sich doch in seinen Eigenschaften vom klassischen Whodunnit durchaus deutlich unterscheidet. Es stimmt zwar, dass O’Dell hinsichtlich des Settings und der Figurenzeichnung in den Fußspuren von Flannery O’Connor, William Gay und Co. wandelt – dennoch halte ich persönlich es für etwas vorschnell, das Werk deswegen im gleichen Zuge noireske Attribute zu attestieren, zumal dies beim etwaigen Leser vielleicht falsche Erwartungen wecken könnte. Man mag nun argumentieren dass der Noir schon immer die Literatur der Krise, das Abbild gesellschaftlicher Verwerfungen und Missstände gewesen ist und die Schattenseiten der Gesellschaft auszuleuchten versucht hat. Und in diesem Sinne müsste entsprechend auch „Wenn Engel brennen“ dieser Kategorie zugeordnet werden. Allein, die Herangehensweise O’Dells an diese Thematik ist doch eine ganz eigene und unterscheidet sich von oben genannten Autoren/innen oder auch anderen bekannten Größen wie William Faulkner oder Tom Franklin.

Ein Malus? Mitnichten, aber durchaus auffällig für Enthusiasten und Kenner des Genres, die sich – bedingt durch Hauptprotagonist und Autorin – an diesen deutlichen weiblicheren Blickwinkel eventuell erst einmal gewöhnen müssen. Nun ist O’Dell weder die erste Frau, die dieses Genre bedient, noch Carnahan der erste weibliche Cop, der sich in der trostlosen Provinz mit einem Mordfall herumschlagen muss. Dennoch empfand ich O’Dells Ansatz als erfrischend anders, weil sie in Bezug auf ihre Figuren weitaus feinfühliger und empathischer vorgeht, es nicht bei den Klischees belässt, sondern direkt hinter die Fassaden schaut. Oder um beim Motiv des Bergbaus zu bleiben, direkt in den Stollen hinabsteigt, um die schwelenden Brände offenzulegen. Ja, auch hier wird uns das ganze Ausmaß des von der Gesellschaft abgehängten White Trash schonungslos dargeboten. Bildungsarmut, fehlende Perspektive, Alkoholismus, Drogenmissbrauch, Vergewaltigung, Inzucht, innerfamiliäre Fehden. Und wie in der TV-Serie „Justified“, so sieht sich auch hier das Gesetz mit einem beinahe undurchdringlichen Geflecht von Abhängigkeiten konfrontiert, welches vor allem von einer festen Regel zusammengehalten wird: „Rede niemals mit den Cops“. Der große, dreckige Hammer, der das alles durcheinander fegt, um für Gerechtigkeit zu sorgen – ihn zieht Tawni O’Dell aber nicht.

Im Kontrast zu ihrem humorlosen Vorgesetzten (und Teilzeitliebhaber), dem unerbittlichen und pragmatischen Trooper Nolan, der jegliche emotionale Verwicklung an seiner verspiegelten Sonnenbrille abprallen lässt, wirkt die Härte von Dove Carnahan berührend menschlich (ich fühlte mich übriges hier desöfteren stark an Sergeant Catherine Cawood aus der TV-Serie „Happy Valley“ erinnert). Geschmiedet in den Ereignissen ihrer eigenen Vergangenheit, hat sie sich einen „Panzer“ zugelegt, der weniger nach außen hin schützen, als vielmehr das eigene Innere am Ausbruch hindern soll. Mit wie viel Fingerspitzengefühl und messerscharfer Beobachtungsgabe – und auch mit wie viel schwarzen Humor – O’Dell ihre Protagonist und ihr engstes Umfeld zum Leben erweckt, das zeugt von großer sprachlicher Qualität. Überhaupt: „Wenn Engel brennen“ entfacht eine Sogwirkung, der man sich schwer entziehen kann und über die man sogar vergisst zu bemerken, dass der eigentliche Mordfall immer wieder aus dem Fokus gerät. Das hat zwar zur Folge, dass nicht alle Wendungen ihre Wirkung wie gewünscht erzielen und der Spannungsbogen zumeist ein eher flacher Hügel bleibt – dem Spaß an der Lektüre tut dies aber keinen Abbruch. Zu tief tauchen wie in die Charaktere hinab, zu eindringlich werden mit dieser tristen Hoffnungslosigkeit konfrontiert, die sich aus einer gesellschaftlichen Isolation speist, die man zwischen den Zeilen zu fühlen glaubt.

Bei all der auf den ersten Blick so offensichtlichen Härte – „Wenn Engel brennen“ ist vor allem eine äußerst sensible, pointierte Milieustudie eines amerikanischen Landstrichs, dessen Bevölkerung sonst stets die ewig gleiche stigmatisierte Rolle zuteil wird, hier aber auf beklemmende und bedrückende Art eine Würdigung erfährt, welche von O’Dells großer Menschenkenntnis zeugt. Kein lupenreiner Country-Noir und schon gar kein Whodunit – aber intensive, wortgewaltige Literatur, welche im Grenzland der Genres seine Heimat findet und auf mehr hoffen lässt. Ein starkes Buch einer Schriftstellerin, die ihr ganzes Repertoire auch hiermit vielleicht noch gar nicht ausgereizt hat. Uneingeschränkte Empfehlung!

Wertung: 84 von 100 Treffern

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  • Autor: Tawni O’Dell
  • Titel: Wenn Engel brennen
  • Originaltitel: Angels Burning
  • Übersetzer: Daisy Dunkel
  • Verlag: Argument/Ariadne Verlag
  • Erschienen: 07/2018
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 352 Seiten
  • ISBN: 978-3867542395

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