„Somebody stepped inside your soul – Little by little, they robbed and stole“

© Goldmann

Knapp anderthalb Jahre waren (obwohl ich stets mit neugierigen Blicken an der Ian-Rankin-Ecke meines Bücherregals vorbei gelaufen bin und durchaus Lust auf ein neues Abenteuer aus Edinburgh hatte) seit der Lektüre von „Verschlüsselte Wahrheit“, dem Vorgänger des nun gelesenen John-Rebus-Falls „Blutschuld“, vergangen. Aber wie das Leben so spielt: Immer wieder kamen andere Titel dazwischen, verhinderte ein unser Wohnzimmer sprengender SUB eine weitere Beschäftigung mit meinem schottischen Lieblingsautor. Sicherlich ein Fehler, denn nach Beendigung des sechsten Bands aus der Reihe um Inspector John Rebus zeigt sich einmal mehr, dass man nicht in die Ferne schweifen sollte, wenn das Gute doch so nah liegt.

Und richtig gut ist auch wieder „Blutschuld“, welcher im englischen Original bereits im Jahre 1993 unter dem Titel „Mortal Causes“ erschienen ist und uns zurück in eine Zeit führt, in welcher die politische Situation in Nordirland wesentlich brisanter war, als dies heute der Fall ist. Rankin ist es nicht nur gelungen, die verhärteten Fronten zu skizzieren, welche jahrelang einen Frieden auf der grünen Insel verhindert haben. Er zeigt auch die Auswirkungen dieses Konflikts auf Schottland, das sich trotz der Mitgliedschaft in „Großbritannien“ keineswegs als gleichberechtigter Partner der Engländer fühlt und in dessen Bevölkerung einige militante Gruppen, auf protestantischer und katholischer Seite, diesen ewig währenden Bürgerkrieg zu ihren jeweiligen Gunsten zu beeinflussen versuchen.

Edinburgh, im August 1993. Wie immer beginnt auch diesmal alles mit einer Leiche. Während in der Innenstadt das berühmte Edinburgh Festival Fringe im Gange ist und Tausende von Touristen durch die engen Gassen strömen, wird in den alten unterirdischen Gemäuern von Mary King’s Close, einem im 17. Jahrhundert errichteten und in späterer Zeit überbauten Straßenzug, die grausam verstümmelte Leiche eines jungen Mannes gefunden. Offensichtlich wurde er vor seinem Tod lange gefoltert, bis man ihm schließlich einen „Six-Pack“ verpasst hat. Eine in Nordirland übliche Strafmaßnahme, bei der dem Opfer systematisch Arme und Beine zerschossen werden. Inspector John Rebus wird an den Tatort gerufen und soll den Fall, nicht zuletzt weil er selbst als junger Soldat in Belfast gedient und Erfahrungen mit der IRA gemacht hat, übernehmen. Die üblichen Nachforschungen werden angestellt, Klinken geputzt und Zeugen befragt, bis bald die Identität des Toten feststeht und die Ermittlungen für John Rebus einen bitteren Beigeschmack bekommen. Bei dem Opfer handelt es sich um niemand geringeren als den Sohn von „Big Ger“ Cafferty. Ein Gangsterboss, der einen Großteil des organisierten Verbrechens in Edinburgh kontrolliert und mit dem sich Rebus in der Vergangenheit bereits mehr als einmal messen musste. Zuletzt hat er ihn sogar hinter Gitter geschickt (siehe „Verschlüsselte Wahrheit“), was „Big Ger“ aber nicht davon abhält, weiterhin seine Ränke zu schmieden und Rache zu fordern. Die soll ihm nun ausgerechnet Rebus verschaffen, den er mit Druck und Drohungen dazu „ermuntert“, den Mörder seines Sohnes zu finden.

Keine einfache Situation für den eigensinnigen Polizisten, der im Zusammenhang mit dem Mord zu einer Sondereinheit, dem Scotish Crime Squad, abkommandiert worden ist, um die möglichen Verflechtungen mit paramilitärischen Organisationen zu überprüfen und der dabei von seinen neuen Kollegen nicht gerade enthusiastisch empfangen wird. Doch Rebus, der hinter vorgehaltener Hand den Ruf eines „Terriers“ genießt, beißt sich fest und setzt alles auf eine Karte, um zwischen Geheimdienstlern, Gangstern, „Freiheitskämpfern“ und jugendlichen Aufrührern der richtigen Spur zu folgen … und diese scheint ihn bald immer näher in die Kreise der Polizei zu führen. Hat sich Rebus diesmal übernommen?

Ian Rankin, in einem kleinen Bergarbeiterort in Fife aufgewachsen, und damit weit weg von den „Unruhen“ in Nordirland, hat bereits seit frühester Jugend Erfahrungen mit der protestantisch-katholischen Feindschaft in Schottland gemacht, welche oft eine Straße, in manchen Fällen ganze Familien getrennt hat. Die eigentliche „Seele“ des Konflikts blieb für ihn jedoch für Jahre, trotz einiger Besuche in Belfast, wo seine Frau Miranda groß geworden ist, schwer fassbar. „Blutschuld“ ist somit als Versuch zu verstehen, die Sektiererei und religiöse Spaltung in Schottland innerhalb der Reihe in Angriff zu nehmen und neben den touristischen Attraktionen, welche Rankin im Umfeld des Edinburgher Festivals hervorhebt, auch die hässlicheren Seiten der Gesellschaft zu zeigen. Herausgekommen ist eine Mischung aus Police-Procedural-Krimi und Politthriller, der die fatalen Konsequenzen der so genannten „Troubles“ im Zusammenhang mit einer spannenden Mordermittlung verdeutlicht und selbst dem nicht-britischen Publikum plastisch vor Augen führt, wie schnell auch perspektivlose Jugendliche in diese Spirale der Gewalt hereingezogen werden können. Dennoch ist „Blutschuld“ keinesfalls ein Mahnmal mit wedelndem Moral-Zeigefinger. Ganz im Gegenteil:

Rankin lässt seine Botschaft dicht unter der Oberfläche fließen und überlässt es dem Leser, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Wie auch schon in den Vorgängern, so hält Rankin auch hier nichts von Schwarz-Weiß-Zeichnungen. Nichts ist eindeutig gut, nichts eindeutig böse. Und selbst die Kriminalität kann man nicht mehr derart in Sparten aufteilen, wie dies früher der Fall gewesen ist. Terroristen und Gangster arbeiten zunehmend Hand in Hand, die eine wäscht die andere. Bei all den hochgesteckten Idealen scheint der Profit noch das Wichtigste zu sein. Der Kampf für die Freiheit dient lediglich als Aufhänger, um Investoren aus den USA für die Finanzierung zu gewinnen. Das hat mich, aus aktuellem Anlass, (hatte dieses Buch kurz zuvor gelesen) an „Die Schatten von Belfast“ erinnert, in dem Autor Stuart Neville die fließenden Übergänge in einem ähnlichen Rahmen thematisiert.

„Big Ger“ Cafferty ist in „Blutschuld“ die Verkörperung dieser Anpassung an das neue Zeitalter. Sein Charakter ist schwer zu fassen, seine Motive undurchdringlich, sein krimineller Charme erschreckend überzeugend. Obwohl er durch und durch Böse ist, erwischt man sich dabei, Sympathie für ihn zu empfinden. Nicht zuletzt deshalb, weil er John Rebus auf eine schizophrene Art und Weise gleicht. Die Idee für diese komplexe Beziehung zwischen dem Polizisten und dem Edinburgher Obergangster ist, laut Rankin, durch die Matt-Scudder-Romane vom New Yorker Autor Lawrence Block inspiriert worden. Block hat das Verhältnis Scudders zu dem knallharten Gangster Mick Ballou ähnlich beschrieben:

Beide scheinen sich zu verstehen, womöglich sogar zu respektieren. Aber wären sie einander ins Gehege gekommen, hätte nur einer die Begegnung überlebt.

Das unsichtbare Kräftemessen zwischen Rebus und Cafferty verleiht „Blutschuld“ eine untergründige Spannung, welche sich erst am Ende entlädt, das, soviel darf verraten werden, das Verhältnis zwischen den beiden Kontrahenten für den weiteren Verlauf der Reihe entscheidend verändert. Ansonsten überzeugt „Blutschuld“ wieder mit der farbenfrohen Schilderung Edinburghs, die sich neben Mary King’s Close, ein Mahnmal für die Vergänglichkeit und Erinnerung an die kriminellen Strömungen der Vergangenheit, vor allem auf das fiktive Viertel Garibaldi Estate („Gar-B“) konzentriert. Dieser heruntergekommene Stadtteil ist ein Sammelbecken für die „Verlierer“ der Gesellschaft. Und gerade hier fallen extremistische oder revolutionäre Ideen auf besonders fruchtbaren Boden. Selbst die Polizei traut sich in diese Problemviertel nur in Hundertschaften und schwer bewaffnet. (Ich hatte in diesen Passagen mehrmals den Film „Harry Brown“ vor Augen) Warum das so ist, muss auch Rebus schnell feststellen. Wie so oft ist gerade an dieser Stelle die Realität erschreckender als die Fiktion.

Neben all diesen gesellschaftlichen Themen, welche heute wohl nicht weniger aktuell sind, als Mitte der 90er, sind es besonders die kleinen Nebengeschichten, die „Blutschuld“ wieder so erfrischend authentisch machen und zum Schluss dann sogar Relevanz für die Auflösung besitzen. Sie droht man im Eifer der Leselust gerne mal zu überspringen, nur um letztlich festzustellen, dass man anhand dieser Details, dem Täter viel früher auf die Spur hätte kommen können. Ich muss allerdings auch gestehen, dass ich lieber Rebus über die Schulter schaue, der weitestgehend im Alleingang (Brian Holmes und Siobhan Clarke haben diesmal eher wenig zu tun) die Steine ins Rollen bringt und den Kampf zu seinen Feinden trägt. Anstatt seinem Protagonisten Neues anzudichten, was bei vielen anderen Autoren deren Ideenarmut bloßstellt, greift Rankin hier wieder auf Rebus‘ Vergangenheit in der Armee zurück, die unter anderem der Grund dafür ist, warum er diesmal in die Spezialeinheit versetzt wird. Das „Blutschuld“ dann am Schluss nicht zu den besten Titeln der Reihe gehört, liegt vor allem am sehr zähen Beginn, der aufgrund vieler Verflechtungen und Anspielungen auf den Nordirland-Konflikt manchmal schwer zu verfolgen ist und anfangs nur wenig Spannung aufkommen lässt. Freunde von actionreichen Thrillern werden da ganz sicher an die Grenzen ihrer Geduld getrieben. Mich hat das, nicht zuletzt wegen dem herrlich lakonischen Rebus, mal wieder nur wenig gestört.

Am Ende bleibt Ian Rankin auch mit „Blutschuld“ ein Garant für ziselierte Spannung und intelligente Unterhaltung, ohne dabei der Versuchung zu erliegen, sich in irgendeiner Art und Weise zu wiederholen. Düster, dreckig, mürrisch und bitter. Ein echter Rebus halt. Genauso wie er sein sollte.

Wertung: 85 von 100 Treffern

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  • Autor: Ian Rankin
  • Titel: Blutschuld
  • Originaltitel: Mortal Causes
  • Übersetzer: Giovanni Bandini
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 05.2003
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 384 Seiten
  • ISBN: 978-3442450169

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