„Wie fügsam die Toten sind …“

© Arche

Es war für mich persönlich DIE Neuigkeit der diesjährigen Frankfurter Buchmesse: Sieben Jahre nach seinem Tod wird William Gay endlich wieder auf Deutsch veröffentlicht. Diesmal im Rahmen des neuen Taschenbuch-Programms vom Polar Verlag. Eine weise, hoffentlich vielfach von den Lesern gewürdigte Entscheidung, gilt für mich der in Tennessee geborene Autor doch zu den ganz großen Meistern des Southern Gothic – und damit auf eine Stufe mit literarischen Größen wie William Faulkner, Daniel Woodrell, Flannery O’Connor oder Cormac McCarthy, die ihm hierzulande leider nur einen höheren Bekanntheitsgrad voraus haben. Höchste Zeit dies nun zu ändern, was für mich wiederum hieß, sich dem letzten noch ungelesenen Titel im Regal, „Nächtliche Vorkommnisse“, zu widmen, welcher vor genau einem Jahrzehnt durch den Arche Verlag herausgegeben wurde und inzwischen leider wieder vergriffen ist.

Leider deswegen, weil es sich hierbei meiner Einschätzung nach um das mit Abstand (bisher) stärkste ins Deutsche übertragene Werk handelt, was neben der hervorragenden Übersetzung durch Joachim Körber vor allem der archaischen Sprachgewalt zu verdanken ist, mit der William Gay dieses stockfinstere Südstaaten-Epos direkt in unserer Magengrube platziert, denn die Lektüre ist wahrlich nichts für Zartbesaitete. Wer schon bei „Kein Land für alte Männer“ Chigurhs Wirken mit dem Bolzenschussgerät nur mit größter Mühe beiwohnen konnte, der sollte von diesem Roman wohl ebenfalls tunlichst Abstand nehmen, spart Gay in seiner Erzählung doch nicht mit der Schilderung expliziter Gewalt, um das Gefahrenmoment für seine Protagonisten zu unterstreichen. Und damit jetzt erst einmal zur Handlung:

Overton County, Tennessee, im Winter des Jahres 1951 (Und damit ein halbes Jahr vor den Ereignissen des Romans „Provinzen der Nacht“ angesiedelt, welcher im Nachbarsort Ackerman’s Field spielt). Die Geschwister Corry und Kenneth Tyler, Nachkommen des in der Vergangenheit stark frequentierten Schwarzbrenners Moose Tyler, haben sich in der schützenden Dunkelheit auf den Friedhof der Kleinstadt geschlichen, um das Grab ihres Vaters zu öffnen. Sie hegen seit langer Zeit den Verdacht, dass bei der Beerdigung nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist und wollen sich nun Klarheit verschaffen. Als sie am nächsten Morgen ihr Werk beendet haben, bietet sich ihnen ein schreckliches Bild. Derart bestätigt setzen sie ihre Ausgrabungen fort und fördern bald eine Perversion nach der anderen zutage: Während manche Särge nichts als Unrat bergen, teilt sich in einem anderen Grab eine alte Frau ihre letzte Ruhestätte mit einem jungen Mann, der mit aufgeschlitzter Kehle zwischen ihren Schenkeln liegt. An wiederum anderer Stelle wurde ein weiterer Leichnam zum Eunuchen gemacht und das entwendete Geschlechtsteil einer Frau in der Parzelle nebenan hinzugefügt. Die Schändungen sind so bizarr, wie unglaublich. Und alles deutet daraufhin, dass der Sonderling Fenton Breece, der reiche und unheimliche Bestattungsunternehmer des Countys, für diese makabren Kompositionen der Toten verantwortlich zeichnet.

Breece sieht sich jetzt plötzlich mit der Enthüllung seiner nekrophilen Vorlieben konfrontiert, denn Corry will nicht nur Rache für ihren Vater, sondern auch einen stattlichen Batzen Geld herausschlagen und beginnt ihn mit mehreren kompromittierenden Fotos zu erpressen. Entgegen dem Rat ihres Bruders, der das Beweismaterial lieber der Polizei übergeben möchte. Und Kenneth soll mit seinem Unbehagen Recht behalten, denn derart in die Enge getrieben, nimmt Breece die Dienste des moralfreien Soziopathen Granville Sutter in Anspruch, um wieder in den Besitz der Fotos zu kommen. Doch Sutter hat seine eigenen Methoden ein Problem zu lösen und kurze Zeit später finden sich die einbalsamierten Überreste von Corry auf dem Sofa von Fenton Breece wieder, während Kenneth sich auf der Flucht vor dem eiskalten Killer in das labyrinthartige Dickicht des Harrikin schlägt. Eine verlassene, unwirtliche Einöde, in der schon so mancher spurlos verschwunden ist …

Zwei Kinder auf der Flucht, ein mitleidloser und sinistrer Verfolger auf ihren Fersen – das weckt nicht ganz ungewollt Erinnerungen an den Film-Noir-Klassiker „Die Nacht des Jägers“, dessen literarische Vorlage von David Grubb hier William Gay auch ganz bewusst zitiert. Und man kann tatsächlich konstatieren: Robert Mitchum wäre mit Sicherheit eine erstklassige Besetzung für Granville Sutter gewesen, dessen diabolisches Schauspiel schon auf Papier diesen Roman nochmal auf eine ganz andere, unheilvolle Ebene hebt. Natürlich ist das Genre des „Southern Gothic“ seit jeher nicht für seine farbenfrohen Töne und den hoffnungsvollen Tenor bekannt – doch „Nächtliche Vorkommnisse“ ringt selbst dem üblichen Pechschwarz weitere dunkle Schattierungen ab. Sutter ist ein Bösewicht, der in seinem teuflischen Treiben neue Maßstäbe setzt und dieses zudem noch mit einer mitunter kaum mehr erträglichen Teilnahmslosigkeit zelebriert, was wiederum beim Leser für klaustrophobische Beklemmung sorgen dürfte. Hinter Sutters erbarmungslosen Augen lauert außer Arglist und Verfall nichts als Leere – und stets aufs Neue in sie blicken zu müssen, das zerrt, fordert und verleiht dem Roman eine nicht greifbare, aber immerwährende Kälte. Eine Kälte, in der die Herzen der wenigen halbwegs guten Menschen in dieser Handlung nur noch langsam und schwach schlagen – wohl auch wissend, dass jedes lautere Geräusch sie als Wild dem Jäger verraten würde.

Und als nichts anderes betrachtet Sutter allen voran Kenneth, mit dem er ein perfides Spiel treibt, dessen Regeln wiederum er selbst festgelegt hat. Allein zu töten, es reicht ihm nicht. Er genießt die Hilflosigkeit seines Opfers, kostet den Moment der Macht aus und erlaubt so dem jungen Tyler immer wieder die Flucht, wobei er jedoch dessen Einfallsreichtum alsbald unterschätzt. Inmitten des Harrikin, wo sich die Wildnis die aufgegebenen Eisenerz- und Phosphat-Minen sowie die verlassenen Farmen nach und nach zurückgeholt hat – hier scheinen auch Sutters eigene Gesetze keinerlei Gültigkeit mehr zu besitzen. Stattdessen hat die Natur alles in den Zangengriff des Winters genommen, der beiden mit unbarmherziger Kraft entgegenweht und wortwörtlich vom Weg abbringt. Ähnlich wie das Bear Thicket in Tom Franklins „Die Gefürchteten“, so manifestiert sich auch hier der Harrikin als ein eigener Charakter innerhalb der Handlung, welche zudem von William Gay besonders stimmungsvoll in Szene gesetzt wird.

Die Wildnis in die Kenneth blindlings stolpert – sie ist von einer archaischen, kahlen Schönheit, abweisend und kalt, und gefangen in einer lethargischen Melancholie, welche wie der Schnee des Winters alles Lebendige unter sich begräbt. Die wenigen Menschen, die sich dieser Ursprünglichkeit aussetzen wollen, sind entweder Relikte vergangener Besiedlungsversuche oder aus eigenen Gründen in diese unwegsame Gegend geflohen. Kenneths Begegnungen mit ihnen muten dank Gays traumwandlerischer Schreibe wie ein Ausflug in einen dunklen Märchenwald an, was wiederum seitens des Autors durchaus gewollt ist, der sich schon in „Ruhe Nirgends“ grimmscher Motive bediente, um der Odyssee seines ungewollten Helden mehr Tiefe zu verleihen. Im vorliegenden Roman treibt er diese augenzwinkernde Hommage auf den Höhepunkt und lässt Kenneth nicht nur auf eine alte „Hexe“ treffen, sondern Sutter sich sogar als alte Großmutter verkleiden, um den ahnungslosen Jungen in die Falle zu locken, dessen einziges Ziel es ist, entsprechend dem Held auf der Queste, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. So verrückt das klingen mag – es ist die Art und Weise wie er die klassischen Märchenelemente aufs Bizarrste pervertiert, welche besonders intensiv die Distanz zwischen Leser und Protagonisten überbrückt und uns letztlich so schutzlos zurücklässt.

Sutters Verfolgungsjagd, sie ist manisch beseelt und von drastischer, brutaler Gewalt – und doch am Ende von einer unerklärlichen, fast mystischen Spannung, die uns als Leser förmlich über die Seiten treibt und bis zum Ende in festen Redneck-Pranken gefangen hält. Unfähig dieses wahnsinnige, kraftvolle literarische Meisterwerk auch nur länger als ein paar Minuten zur Seite zu legen.

Nächtliche Vorkommnisse“ hat mich – trotz der Kenntnis von Gays großer Klasse – noch einmal auf allerhöchstem Niveau überrascht und gleichzeitig auch vollkommen erschöpft zurückgelassen. Ein nihilistisches Juwel des Southern Gothic, dem man eine rasche Neuauflage nur wünschen kann und das sich in meiner persönlichen Bestenliste ganz oben ansiedeln wird.

Wertung: 97 von 100 Treffern

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  • Autor: William Gay
  • Titel: Nächtliche Vorkommnisse
  • Originaltitel: Twilight
  • Übersetzer: Joachim Körber
  • Verlag: Arche
  • Erschienen: 03/2009
  • Einband: Hardcover
  • Seiten: 288 Seiten
  • ISBN: 978-3716026052

5 Gedanken zu “„Wie fügsam die Toten sind …“

  1. Da bin ich aber gespannt auf die nächste Verlagsvorschau des Polar Verlags: William Gay + neue Taschenbuchreihe! Das scheinen ja Informationen aus erster Hand zu sein, anderswo habe ich diesbezüglich noch nichts gefunden… Ein Grund mehr, diesen Blog weiterhin regelmäßig zu besuchen!

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