
© Heyne
Oftmals sind es die kleinen Dinge am Wegesrand, welche einen den Tag versüßen oder einfach nur glücklich machen. Für die meisten anderen unscheinbar, sind sie für uns selbst etwas Besonderes, etwas das in Erinnerung bleibt. Das gilt in diesem Fall auch für „25 Stunden“, den Debütroman vom US-amerikanischen Schriftsteller und später vor allem durch seine Beteiligung an der TV-Serie „Game of Thrones“ bekannten Drehbuchautor David Benioff.
Obwohl bereits 2002 auf Deutsch veröffentlicht, führte sein Erstling ein über lange Zeit unbeachtetes Schattendasein auf dem Buchmarkt, bis durch sein zweites Werk „Stadt der Diebe“ der Name Benioff wieder neu in den Fokus rückte. „25 Stunden“ bekam daraufhin ein neues Cover verpasst und ward erneut aufgelegt. Die ganz große Aufmerksamkeit ist ihm aber dennoch versagt geblieben. Angesichts des Inhalts zwischen den Buchdeckeln ist das mehr als erstaunlich, denn der Roman ist ein tiefgängiges Kleinod im riesigen, an vielen Stellen sehr flachen Becken des Belletristik-Genres. Möglich, dass es nur an meiner zuvor eher neutralen Erwartungshaltung lag, aber Fakt ist: Über „25 Stunden“ seinen Senf abzugeben, ohne dabei nicht mindestens einmal das Wort „Meisterwerk“ in den Mund zu nehmen, fällt schwer.
Die Geschichte ist, auch wegen der Kürze des Buchs, relativ schnell erzählt: Tiefer Winter in New York. Für Montgomery „Monty“ Brogan ist das Leben, so wie er es bisher kannte, ab morgen vorbei. Wegen eines Rauschgiftdeliktes muss er für 7 Jahre hinter Gittern. Und ab diesem Zeitpunkt, und auch danach, nur für den Fall, das er den Knast überlebt, wird nichts mehr wieder so sein wie es war. Monty weiß das, und seine besten Freunde Slattery und Jacob wissen das auch. So beginnt der letzte Tag, die letzten 25 Stunden in Freiheit für Monty, der noch einmal seine Lieblingsplätze in New York aufsucht, um diese so intensiv und lebendig wie möglich zu erleben, auf das diese Stadt, in der er sein ganzes Leben verbracht hat, auch in Gedanken weiterhin lebendig bleibt …
Auf den ersten Blick betrachtet ist das eine Handlung, die so spannend ja eigentlich nicht sein kann. Was will man schon in diese „25 Stunden“ pressen? Schießereien? Morde? Abrechnungen mit alten Feinden? Benioffs Erstling spielt mit den Erwartungen, um dann letztlich etwas zu bieten, mit dem man nicht gerechnet hat. In verschachtelten Rückblenden erfährt der Leser, wer Monty ist, und wie er zu dem wurde, der er nun ist. Ziemlich schnell wird dabei deutlich: Brogan ist smart, beliebt und angesehen. Ein Mensch, der bisher fast immer nur auf der Sonnenseite gelebt und alles erreicht hat, was er wollte. Und der damit im krassen Widerspruch zu den üblichen Gangsterklischees steht. Selbst die Kindheit war eine glückliche, wäre da nicht der frühe und schmerzliche Tod seiner Mutter gewesen, der ihn aus der Bann geworfen hat. Eine einzige Entscheidung, getroffen aus dem Bauch heraus und doch die falsche, ein simpler Zufall, begründet schließlich seine kriminelle Laufbahn. Und hier zeigt sich das Besondere an diesem Buch: Benioff verurteilt nicht, noch ergreift er Partei. Er überlasst den Leser seinen Betrachtungen, lässt ihn sich seine eigene Meinung bilden. Und diesem wird es schwer fallen, Monty nicht zu mögen.
Durch die Augen der beiden Freunde Slattery und Jacob, über deren Leben man so nebenbei auch noch einiges erfährt, gewinnt Montys Geschichte im Laufe der Handlung immer mehr an Tiefe und erweckt eine Figur so bildreich zum Leben. Seine Schicksalsschläge teilt man, die Angst vor dem, was hinter den Gefängnisgittern auf ihn wartet, beginnt man unweigerlich selbst zu spüren. Es ist eine Angst vor der Hoffnungslosigkeit, aber auch vor dem Abschied. Von Menschen, die Monty lieb gewonnen hat, die seinen Weg begleitet haben. Und von einem Pitbull, dem er einst vor dem sicheren Tod rettete und der nun an seinen Freund Jacob gehen soll. Ein Mensch wird ins Gefängnis geschickt, der einen Fehler gemacht hat. Einen großen Fehler. Aber er ist dennoch ein guter Mensch, dem man eben das nicht wünscht, was er zweifellos verdient hat. Was soll er tun? Weglaufen? Den Selbstmord wählen? Montys letzter Abend in Freiheit für mindestens 7 Jahre nimmt für alle Beteiligten einen dramatischen Verlauf.
Benioff pflegt dabei eine Dramaturgie der wenigen und vor allem der ruhigen Worte. Das pulsierende Leben in der Großstadt, die einsamen Momente in der Dämmerung am Fluss, Montys Gedanken, Ängste und unerfüllte Träume, Schuld und Sühne, eine Ahnung von Glück. Alles wird so klar und treffend geschildert, als würde man es selbst erleben. Benioff greift die großen Themen der Literatur auf: mitreißend und nachdenklich, bewegend und differenziert. Hierbei spielt New York eine wesentliche Rolle. Wie Monty selbst liebt David Benioff diese Stadt, diesen Ort der Verführung, des Zynismus, aber auch der unbegrenzten Möglichkeiten, der Treue und der Heimat, dessen Kulturszene der Autor ebenso beschreibt, wie die Menschen und die vor Eis klirrende, kalte Winternacht. „25 Stunden“ ist eindeutig mehr als nur der Abgesang auf einen Gangster. Es ist eine Liebeserklärung an New York und die Suche nach der Antwort auf existentielle Fragen: Wer bin ich? Was macht das Leben wirklich aus? Sind Ruhm und das Geld es wert, seine Träume und Ideale zu verraten?
Die gefühlvollen Inneneinsichten der einzelnen Protagonisten werden für den Leser zu einem unterschwelligen Appell an die Dinge, die im Leben von Bedeutung sind: Freundschaft, Liebe, Vertrauen. Gleichzeitig ist es eine Warnung vor dem falschen Weg, vor dem was am Ende wartet. Wenn man so will ist „25 Stunden“ also ein Knastroman, der sich zwar nie in die Mauern des Gefängnisses begibt, aber trotzdem – oder gerade deswegen – die Atmosphäre einer solchen Institution vor Augen führt. Eine Hölle für diejenigen, die zu viel Gutes in sich haben, die eben noch nicht skrupellos und abgestumpft sind. David Benioff ist es gelungen, den Spagat zwischen Unterhaltung und Anspruch ebenso zu meistern, wie den zwischen Komplexität und klarer Linie. Er schreibt mit einer schon erschreckenden Souveränität und kreiert einen bis zum Ende steigenden Spannungsbogen.
„25 Stunden“ ist ein Buch, das mich atemlos und nachhaltig beeindruckt zurückgelassen hat, gerade weil es diese in der heutigen Zeit verloren gegangene Erkenntnis, dass das Leben einzigartig und schätzenswert ist, wieder mehr ins Bewusstsein gerückt hat. Warum dieses grandiose, in den USA hochgelobte Werk hierzulande (trotz der relativ zeitnahen Verfilmung durch Spike Lee mit Edward Norton in der Rolle als Monty) so untergegangen ist, wissen wohl nur die Verleger.
Wertung: 93 von 100 Treffern
- Autor: David Benioff
- Titel: 25 Stunden
- Originaltitel: The 25th Hour
- Übersetzer: Frank Böhmert
- Verlag: Heyne Verlag
- Erschienen: 10/2009
- Einband: Taschenbuch
- Seiten: 224 Seiten
- ISBN: 978-3453434783
Interessante Rezension über ein interessantes Thema… haben mich neugierig gemacht. Ich glaube das könnte was für mich sein.
Da ich dabei bin mir einen Winter-Bücher-Warenkorb zusammenzustellen, habe ich „25 Stunden“ mal fix hineingetan. Für mich ist es wichtig von Zeit zu Zeit auch Texte/Romane zu lesen die „nachhallen“ und sie sich in bestimmten Situationen wieder bewusst werden zu lassen.
Vielleicht ist Paul Auster ja jetzt böse, dass ich 4 3 2 1 wieder auf die Warteliste gesetzt habe, aber ehrlich gesagt habe ich auch ein bisschen Angst vorn den etwa 1000 Seiten. Hast Du schon was von Auster gelesen? Ich habe „Invisible“ und „Sunset Park“ gelesen – beide Romane haben mich nachhaltig beeindruckt (es sind keine wirklich abgeschlossenen Geschichten wie in den meisten Krimis oder Romanen, sondern eher Lebensgeschichten, Gedankenspiele mit ihren Irrungen und Wirrungen – schwer zu beschreiben) doch „hallen“ sie auch nach längerer Zeit nach; sie hatten eine ähnliche Wirkung auf mich wie „Paris Trout“ von Pete Dexter.
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Ja, ich denke als Winterlektüre taugt dieses Buch durchaus. Nicht nur weil es zur gleichen Jahreszeit spielt, sondern weil sich die Lektüre sehr ruhig und geruhsam gestaltet – und doch einen gewissen Sog entfacht.
Von Auster habe ich bisher vier Romane gelesen: „Brooklyn-Revue“, „Buch der Illusionen“, „New York-Trilogie“ und „Lulu on the Bridge“. Der Mann hat einen ganz unverkennbaren Schreibstil. Unaufdringlich, aber eindringlich. Melancholisch und doch voller Situationskomik. Besonders die drei erstgenannten Bücher haben mir alle sehr gut gefallen. „Das Buch der Illusionen“ sticht vllt etwas heraus. Ein paar weitere Austers warten noch im Regal, darunter auch „Sunset Park“. ;-)
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Lieber Stefan, lieber Paul (Auster),
das obenbesprochene Buch habe ich mit nach London gebracht, weil ich – zugegebenermassen – nach Stefans Rezension extrem neugierig auf die Story war.
Nach 2 Seiten war ich begeistert von der schnörkelosen Schreibe… sie hat mich sehr an die ungeschminkte Sprache der alten klassischen Noirs erinnert: hart und präzise wie unter den grellen Lampen eines Operationstisches werden die Protagonisten sozusagen „filettiert“.
Die ausdrucksstarke, realistische Sprache des Autors zog mich in ihren Bann und ich habe das Buch in 2 Tagen ausgelesen!
Mein Fazit: wunderbar umgesetzte Story… bis auf die letzten anderthalb Seiten; die hätte sich Herr Benioff m. E. sparen können (wer das Buch liest, oder gelesen hat, versteht höchstwahrscheinlich was ich meine).
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Liebe Michèle,
es freut mich sehr zu lesen, dass Dir der Benioff auch so gut gefallen hat, Da schlägt das alte Buchhändlerherz doch gleich wieder ein bisschen höher. :-)
Ich wünsche Dir noch eine ganz tolle Zeit in London und kann bereits verraten: Nächsten Oktober werden wir der Stadt an der Themse auch einen Besuch abstatten. Müssen nur noch nen Flug buchen. ;-)
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