Sehnsucht nach Freiheit

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© Diogenes

Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinsieht, so kann kein Apostel herausgucken.

Georg Christoph Lichtenbergs berühmtes Zitat, dessen zynischer Unterton bis heute nicht an Wirkung verloren hat, ist nur auf den ersten Blick eine Anklage an den „dummen“, unkritischen Leser – der Wahrheitsgehalt sowie die eigentliche Aussage des deutschen Schriftstellers und Begründers des Aphorismus ergeben sich, wie bei einem Buch, erst bei genauer Betrachtung. So geht es vielmehr um die Möglichkeiten des Zugangs, die ein Leser zu einer Lektüre findet. Und um seine Fähigkeit, eine wechselseitige Beziehung herzustellen.

Vielleicht eine Erklärung dafür, warum Alfred Anderschs Klassiker, „Sansibar oder der letzte Grund„, als Schullektüre stets aufs Neue derart wenig Zuspruch und Wohlwollen erntet. Auch mir selbst fehlte zum damaligen Zeitpunkt schlichtweg das Rüstzeug zur näheren Interpretation bzw. eine gewisse Lebenserfahrung, welche man als Leser vielleicht auch benötigt, um dieses eindringliche Werk wirklich schätzen zu können. Das es schätzenswert ist, daran besteht für mich nach der neuerlichen Lektüre kein Zweifel. Mehr noch: „Sansibar oder der letzte Grund“ ist für mich eins der besten, weil eindringlichsten Bücher der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur.

Wir schreiben den Herbst des Jahres 1937. Die nur dem äußeren Schein nach friedliche Phase der NS-Diktatur nähert sich langsam dem Ende, erste Vorboten eines kommenden Krieges drohen bereits am Horizont. Und Rerik, ein kleines graues Ostseestädtchen in der Nähe von Wismar, wird zu einem Anlaufpunkt für all diejenigen, denen auf der Flucht vor dem repressiven und sich stets weiter ausbreitenden Schatten der Nationalsozialisten nur der Weg ins ausländische Exil bleibt. Unter ihnen ist neben der Hamburger Jüdin Judith auch der kommunistische Parteifunktionär Gregor, der seinen ursprünglichen Gedanken jedoch bald aufgibt, als er in der Kirche des regimekritischen Pfarrers Helander die Skulptur eines „lesenden Klosterschülers“ vorfindet, der sich ebenfalls auf einer Verbotsliste befindet und in Kürze entfernt werden soll. Die einzige Hoffnung ist der alte Fischer Knudsen, der sich allerdings beharrlich weigert, seinen Kutter für eine Fahrt nach Schweden zur Verfügung zu stellen. Kann ihn sein Schiffsjunge, der seit der Lektüre von Mark Twains „Tom Sawyer“ von „Freiheit und Abenteuer“ träumt, zum Umdenken bringen? Oder wird Rerik zur Sackgasse ohne Hoffnung?

Nicht nur wer auf diese beiden Fragen die Antwort erfahren will, sollte unbedingt Anderschs Buch lesen, dessen einzigartige Stimmung den Leser trotz anfangs ungewohnt vieler Perspektivwechsel schnell in den Bann schlägt. Beinahe unmerklich will man selbst nach dem Mantelkragen greifen, um diesen hochzuklappen,  derart kühl, rau und ungemütlich wirkt Rerik, das mit seinen roten Türmen und den dunklen Gassen ein wenig an das Wisborg bzw. Wismar der Nosferatu-Filme erinnert. Und auch wenn in dieser Hafenstadt kein Vampir sein Unwesen treibt, die Atmosphäre ist ähnlich bedrohlich, die Bedrängnis der Figuren, denen „die Anderen“ (das Wort Nazis wird im Roman nie explizit genannt) im Nacken sitzen, in jeder Zeile zu spüren. Während das im Laufe des Abends immer schwärzer werdende Wasser des Hafenbeckens an die Kaimauer klatscht, kuschelt man sich als Leser unmerklich tiefer ins wärmende Sofa oder den Sessel, versucht man dieses Gefühl der Angst abzuschütteln, welches Andersch mittels der einzelnen Figuren und ihren unterschiedlichen Situationen in bedrohlicher Intensität zum Leben erweckt. Angst vor Verrat, vor möglichen Denunzianten, vor einer ungewissen Zukunft, vor einem unausweichlich erscheinenden Selbstmord – und eben vor jenen „Anderen“, die offensichtlich jeden Schlupfwinkel kennen und damit auch jede Aussicht auf Erfolg zunichte machen.

Es ist dieser mit detaillierter Schärfe beschriebene Kontrast zwischen der offensichtlichen Übermacht des unmenschlichen Regimes und dem menschlichen Handeln der Entmachteten und Machtlosen, der „Sansibar oder der letzte Grund“ aus der üblichen Nazi-Anklageliteratur hervorhebt und gleichzeitig zu einem Plädoyer für Freiheit und Anderssein macht, ohne dafür den berühmt-berüchtigten moralischen Zeigefinger heben zu müssen. Anstatt klar Position zu beziehen, lässt der Autor stattdessen das Handeln seiner Protagonisten für ihn sprechen, welche zwar aus verschiedenen Gründen auf der Flucht sind oder sich mit dem Gedanken an diese tragen, die aber alle miteinander die Gefahr spüren – und auch nach und nach die Aussichtslosigkeit des Widerstands erkennen.

Verbunden sind alle Personen durch die Skulptur des lesenden Klosterschülers, der, wenn auch leblos, trotzdem ein Flüchtender ist.

Er liest alles, was er will. Weil er alles liest, was er will, sollte er eingesperrt werden. Und deswegen muss er jetzt wohin, wo er lesen kann, soviel er will.

So versucht Judith dem Fischerjungen zu erklären, weshalb eine einfache Abbildung eines Klosterschülers mit Buch, ein reines Stück Kunst, für die Diktatur der „Anderen“ eine Bedrohung darstellt. Jemand, der jederzeit das Buch zuklappen und aufstehen kann, um etwas ganz anderes zu tun, ist jemand, der nicht zu kontrollieren ist. Und gerade diese Kontrolle, in allen Bereichen, garantiert diese umfassende Macht des Nationalsozialismus. Wird sie unterhöhlt, kann auch sie nicht von Dauer sein. Selbiges gilt nicht weniger für den straff durchorganisierten Kommunismus, weshalb es gerade diese Figur ist, die Gregor letztlich dazu bringt, den eigentlichen Auftrag seiner Partei über Bord zu werfen, um stattdessen für die Rettung des Klosterschülers Sorge zu tragen – die Rettung einer Freiheit, welche er vergessen zu haben glaubte und nach der sich auf der anderen Seite der Fischerjunge mehr als alles andere sehnt.

Durch den fortwährenden Wechsel der Perspektiven liest sich „Sansibar oder der letzte Grund“ trotz des mehr als ernsten Themas durchaus kurzweilig und – und das ist gerade bei deutscher Literatur bei mir oft selten der Fall – mitreißend und spannend. Vergleichbar mit „dem Film „Casablanca“ oder dem weit weniger anspruchsvollen Buch „Die Nadel“ von Ken Follett, treibt die „Schaffen-sie-die-Flucht“-Frage die Handlung stetig voran, gewinnt der Spannungsbogen zusehends an Höhe. Gepaart mit den stimmungsvollen Beschreibungen ergibt sich schließlich ein überraschend temporeiches Leseerlebnis, das am Ende sogar die ein oder andere Überraschung bereithält.

Sansibar oder der letzte Grund“ sind 178 Seiten tiefgründige, vielschichtige und doch stets sogkräftige Literatur über eins der düsterstes Kapitel unserer Geschichte. Zu Recht ein Klassiker und zu unrecht so oft von Schülern gescholten – ein Roman, für den man möglicherweise erst bereit sein muss, der dann aber in seiner Stille umso stärker und lauter nachhallt.

Wertung: 98 von 100 Treffern

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  • Autor: Alfred Andersch
  • Titel: Sansibar oder der letzte Grund
  • Originaltitel: –
  • Übersetzer: –
  • Verlag: Diogenes
  • Erschienen: 09.2006
  • Einband: Taschenbuch
  • Seiten: 178 Seiten
  • ISBN: 978-3257236019

12 Gedanken zu “Sehnsucht nach Freiheit

  1. Lustig, „Sansibar“ war eine der wenigen Schullektüren, neben u.a. Schillers „Kabale und Liebe“, die mich wirklich und aufrichtig erreicht und begeistert im Sinne von etwas in mir angerührt haben. :) Schön, das Buch hier zu sehen. :D

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    • Mir hat man in der Oberstufe und später auch im Studium den Spaß – insbesondere an deutscher Literatur – erstmal ziemlich vergällt. Das kam dann erst während meines Unterrichts an den Schulen des Deutschen Buchhandels in Seckbach (jetzt Mediencampus) mit Macht zurück. Die Dozenten wussten zu begeistern und ich habe Autoren für mich entdeckt (u.a. auch Arno Schmidt), die ich vorher wahrscheinlich nicht mit der Kneifzange angefasst hätte. Ich hatte aber auch das Gefühl, dass man eher bereit für diese Art von Literatur war. Das passende Buch zum passenden Zeitpunkt – das ist nicht immer einfach.

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      • Hm, den konnte man mir irgendwie nicht bzw. ich ließ ihn mir nicht vergällen. Aber sicher hat es immer auch etwas mit der persönlichen Situation zu tun, jedes Buch hat seine Zeit, davon bin ich fest überzeugt, manchmal verpasst man sie in seinem Leserleben. Ich habe damals zum Beispiel keinen Zugang zu „Homo Faber“ gefunden, aber auch das hat mich nicht von deutscher Literatur abgehalten, hab dann eben selbst nach Alternativen gesucht. Aber nun ist auch einfach nicht jeder Mensch der große Leser. Und vielleicht gefällt mir auch in 20 Jahren „Homo Faber“ nicht. ;)

        Ich habe mich früher oft gefragt, ob es gerade in der Sekundarstufe 1 nicht hilfreicher wäre, Schülern einen leichteren Zugang zur Literatur mit altersgerechten Themen und verständlicheren Konflikten zu geben. Wird heute mehr probiert, Jakob Arjouni als Schullektüre zum Beispiel, oder Wolfgang Herrndorf. Finde ich gut.

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        • Mich hat man u.a. mit Fontanes „Effi Briest“ oder (zwei Jahre hintereinander) mit Manns „Die Buddenbrocks“ gequält. Für jemanden, der damals gerade Chandler, Hammett und Co. für sich entdeckt hatte, war das eine gefühlte literarische Nötigung. ;-) Heute sieht man das – abgesehen von der ollen Briest, da krieg immer noch Pickel – alles ein bisschen anders. Der Horizont weitet sich doch mit dem Alter. Und auch die Lesegewohnheiten und Vorlieben werden andere.

          Dennoch muss ich Dir Recht geben. Die Schullektüre ist oftmals wahrlich schlecht gewählt. Es gibt so viel gute deutsche Literatur. Warum man sich immer die raussucht, auf denen die dickste Staub-Patina liegt, ist mir ein Rätsel. Neue Leser oder überhaupt Leser gewinnt man damit nicht. Arjouni und Herrndorf sind gute Beispiele, wie man es anders angehen könnte. Oder Krausser. Oder Regener. Oder, oder. Die Auswahl ist eigentlich groß genug.

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          • Haha, Effi Briest habe ich später nach der Schule mal privat gelesen, davon wurden wir in der Schulzeit verschont. Leider aber auch vor den Manns, sodass ich bis heute noch nichts von Thomas oder Heinrich Mann gelesen habe, nur von Klaus Mann, und das dann auch privat. Ich denke, einige Klassiker kann man gut für Schüler aufbereiten, für andere aber ist vermutlich der Zugang als Jugendlicher mehr als mühsam. Ist halt die Frage, ob die Schule Lust an Literatur vermitteln will oder nur abfragbares Wissen. Mir wäre ersteres lieber und sinnvoller und nachhaltiger.

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  2. Das Buch habe ich nicht in der Schule gelesen, aber mein Deutschlehrer hatte uns in der Oberstufe mal so eine Art Kanon der deutschen Literatur zusammengestellt, von dem ich später tatsächlich einiges gelesen habe. Unter anderem auch „Sansibar“, das dadurch zu einem meiner Lieblingsbücher geworden ist.
    Sehr gelungene Besprechung, Stefan.

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    • Danke Schön, Gunnar! – So etwas ähnliches habe ich mir in Seckbach zusammengestellt, wobei da in erster Linie der ehemalige Professor Rainer Dorner verantwortlich zeichnet. Übrigens kann ich Dir folgendes sehr empfehlen: „Erzählte Literaturgeschichte: Von Goethe bis Grass“ – Sind 7 CDs. Gibt es zwar nur noch gebraucht, aber es lohnt sich. Dieser Mann kann Leidenschaft zu Literatur vermitteln wie kaum ein anderer!

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  3. Ich habe „Sansibar“ in der Mittelstufe gelesen und ich fand es, glaube ich, auch ganz gut. Aber ich gebe Dir absolut recht damit, dass sich das Buch mit etwas mehr Lebens- und Leseerfahrung gänzlich anders liest und weitaus mehr Gehalt transportiert. Das Zitat am Anfang ist auf seine zynische Art einfach wunderbar. LG und einen schönen Sonntag! Eva

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  4. Dann werde ich mein Senfkorn auch noch dazu geben :-)
    Ich war in meiner Jugend von Literatur so begeistert, dass man sogar Bücher von mir fern halten musste. Auch wir haben auf dem Gymnasium „Sansibar oder der letzte Grund“ als Pflichtlektüre gehabt, doch ich war sehr begeistert von dem Buch und die Schulausgabe steht immer noch bei mir im Regal. Deshalb verstehe ich Deine Begeisterung für dieses kurze aber treffende Buch und schließe mich Deiner Meinung voll an.

    Auf den Geschmack gekommen (deutschsprachige Nachkriegsliteratur), habe danach auch noch „Die Kirschen der Freiheit“ gelesen sowie „Andorra“ von Max Frisch (Wikipedia: „In Form einer Parabel thematisiert Frisch am Beispiel des Antisemitismus die Auswirkung von Vorurteilen, die Schuld der Mitläufer und die Frage nach der Identität eines Menschen gegenüber dem Bild, das sich andere von ihm machen.“). Auch Erich Maria Remarque’s „Die Nacht von Lissabon“ gehörte damals zu meinen absoluten Lieblingsbüchern (so dass ich mit 15 oder 16 sogar freiwillig einen Vortrag vor der Klasse über dieses Buch gehalten habe).

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    • Nun ja, das war ich auch. Allerdings zählte die deutschsprachige Literatur zumindest in jungen Jahren nicht unbedingt dazu. Sieht man mal von Preußler oder Ende (Den „Wunschpunsch“ liebe ich bis heute) ab. Und in der Schule hat man dann selbst im Englisch-Unterricht selten vernünftiges vorgesetzt bekommen. Daher war es dann eher die eigene Suche nach Lesestoff, die meine Lust an Literatur beflügelt hat. Bin also eher trotz anstatt wegen der Schule zu einem Vielleser geworden.

      Max Frischs „Andorra“ habe ich damals auch gelesen und erst nach der Schule wirklich zu schätzen gewusst. Nicht so Remarque, bei dem natürlich „Im Westen nichts Neues“ im Unterricht behandelt und für absolut großartig befunden wurde. Die weiteren Werke will ich mir in jedem Fall auch noch vornehmen.

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