„Scheiterhaufen“ hat mich nachhaltig beeindruckt, weswegen ich jetzt im zweiten Anlauf nochmal die Werbetrommel für diesen außerordentlichen Autor rühre, um gleichzeitig auch Jens Seeling Lob zu zollen, der ihn wiederum als erster im deutschsprachigen Raum entdeckt hat. Dennoch: Größere Bekanntheit blieb dem Buch bisher versagt – CrimeAlley versucht das zumindest ein wenig zu ändern.
Knapp zweieinhalb Jahre nachdem ich die Lektüre von Derek Nikitas‚ Debütwerk beendet und daraufhin in Kurzfassung rezensiert habe, kehre ich nun noch einmal zu diesem bemerkenswerten Buch zurück, das, anfangs noch von Jens Seeling auf eigene Faust übersetzt und verlegt, im Anschluss bei Knaur als Taschenbuchausgabe wiederveröffentlicht worden – und dem letztlich doch größerer Erfolg bei der breiten Masse versagt geblieben ist. Nun ist Verkaufserfolg natürlich nicht immer gleich auch ein Qualitätsmerkmal, weshalb sich „Scheiterhaufen“ in eine inzwischen äußerst umfangreiche Liste kleinerer Meisterwerke einreiht, wobei sich das Adjektiv „klein“ hierbei auf die Art der Vermarktung und den Vertrieb, und nicht auf das eigentliche sprachliche und inhaltliche Niveaus des Romans bezieht. Im Gegenteil: Nikitas‘ Erstling beeindruckt und bedrückt bis über die letzte Seite hinaus, ringt dem Spannungs-Genre gleich eine ganze Reihe menschlicher Facetten ab, an welcher sich schon so manch gestandener Krimi-Autor seine Finger verbrannt hat. Fernab vom üblichen Thriller-Mainstream wird uns eine etwas andere „Coming-of-Age“-Geschichte präsentiert, welche sich, anfänglich träge beginnend, später in einer Nachtschwärze brutal Bahn bricht, die selbst gefestigte Leser ins Wanken bringen dürfte. Doch „First things first“, weshalb die Handlung an dieser Stelle kurz angerissen sei:
Das kleine Städtchen Hammersport, im Staat New York, Anfang der 90er Jahre. Lucia Moberg, genannt Luc, muss unbedingt noch einmal in das örtliche Shopping-Center, um für ihre besten Freundinnen, die Zwillinge Gina und Kita, Geburtstagsgeschenke zu besorgen, doch Mutter Blair hat keine Zeit und auch Vater Oscar, Dozent in der nahegelegenen State University, zeigt wenig Lust den Chauffeur zu spielen, bis er schließlich aber doch der Überredungskunst seiner geliebten Tochter erliegt. Nach einem kurzen Einkauf will man sich wieder auf die Rückfahrt machen, als ein Mann an das Fahrerfenster herantritt und Lucias Vater anspricht – während sie selbst nur wenig von dem gesagten versteht, drückt dieser panisch aufs Gas, worauf zwei Schüsse fallen. Wenige Sekunden später ist alles vorbei. Oscar ist tödlich getroffen, der Täter flüchtig, die familiär ohnehin brüchige Idylle bis in die Grundfesten erschüttert.
Während Lucia sich zwar schuldig für den Tod ihres Vaters fühlt, ihn aber einigermaßen verarbeiten kann, reißt der Verlust des Mannes ihrer Mutter den Boden unter den Füßen weg. Blair kann sich mit der Realität nicht abfinden, will aus dem Leben scheiden, vor den Ereignissen flüchten, woraufhin Lucia sich plötzlich in der Rolle des Versorgers wiederfindet, bis auf einer unerwarteten Richtung Hilfe kommt: Greta Hurd, Ermittlerin im Fall ihres Vaters und Mutter einer Tochter, mit der sie keinerlei Kontakt mehr hat, sieht die Chance gekommen, zumindest für Lucia eine Unterstützung zu sein – und mit den hier gewonnenen Erfahrungen vielleicht auch privat einen Neuanfang zu wagen.
Zur gleichen Zeit wirft „Scheiterhaufen“ einen Blick auf das Leben von Tanya Yasbeck, welche schon als Jugendliche aus dem Elternhaus geflohen ist und sich die letzten Jahre als Gelegenheitsprostituierte verdingt hat – immer in der Hoffnung, eines Tages den Absprung zu schaffen. Als sie eines Tages Mason Renault trifft, glaubt sie den Retter gefunden zu haben. Doch der zukünftige Vater ihres gemeinsamen Kindes ist nicht nur über alle Maßen gewalttätig, er setzt auch alles daran Mitglied der „Skeleton Crew“, eine aufgrund ihrer Brutalität gefürchteten Biker-Gang, zu werden. Nur langsam dämmert Tanya, dass ihr Leben an der Seite eines Rockers, trotz anders gearteter Versprechungen, keinerlei Sicherheit bietet. Mehr noch: Mason scheint mittendrin im Mosberg-Fall zu stecken … und ihre Zukunft ist ungewisser als je zuvor.
„Konventionen und Regeln sind dazu da gebrochen zu werden. Nein, besser noch, wie werfen sie gleich in einen Scheiterhaufen.“ So oder ähnlich könnten die Gedankengänge von Derek Nikitas ausgesehen haben, als er sich daran machte, sein erstes Buch zu Papier zu bringen, welches nicht nur im Testosteron-getränkten Genre „Spannungsroman“ vier Frauen in den Mittelpunkt seiner Handlung stellt, sondern auch die sonst üblichen Elemente wie Tatortuntersuchungen, den versoffenen Ermittler oder den soziopathischen Serienkiller vollkommen außen vor lässt. Als Konsequenz daraus liest sich der Roman vom Fleck weg atmosphärisch, glaubhaft und vor allem grundehrlich. Keine unnötigen Twists, keine Effekt-Hascherei – nur ganz normale Durchschnittsmenschen, denen das Schicksal und das Leben einen Strich durch die Rechnung macht, die ins Feuer des titelgebenden Scheiterhaufens geraten, in welchem sie schließlich zu verbrennen drohen.
Nikitas Kniff, das Älterwerden eines Teenagers und das abrupte Ende der Jugend in die Form eines Thrillers zu gießen ist ebenso simpel wie genial, da es die Möglichkeit bietet, eine oftmals mit Kitsch abgeschmackte Thematik glaubwürdig in ein Szenario einzubetten, welches zwar düster und roh daherkommt, seine Wurzeln in unserer Gesellschaft aber nicht verleugnen kann. Wie der Autor diese Abfolge präsentiert, den Fortgang des Geschehens mit der Auflösung des Mordfalls verwebt (wohlgemerkt ohne dass diese Auflösung im Zentrum stehen würde), zeugt von einer schriftstellerischen Reife und ist Beweis einer Stilsicherheit, die nur wenigen Debütanten sonst zuteil ist. Insbesondere das letzte Drittel, in welchem sich die zuvor aufgebaute, dräuende Spannung brutal und drastisch entlädt, betont den „I don’t care“-Gedanken, von dem der ganze Plot beseelt ist. Ursache und Wirkung werden hier nicht fiktional verwoben, sondern konsequent zum unausweichlichen Ende im letzten Kapitel geführt, das nicht ganz ohne Hintergedanken die Überschrift „Ragnarök“ trägt. Ein Hinweis auf die gewaltsame Götterdämmerung in der nordischen Mythologie und gleichzeitig die zweite Zeile eines Reims, der mit Oscars Interesse für eben jene skandinavischen Ursprünge, seinen Anfang genommen hat.
„Scheiterhaufen“ ist ein schroffes, dreckiges, düsteres und manchmal auch nur schwer erträgliches Juwel im Haufen der stereotypen Kieselsteine, bei dem Autor Derek Nikitas leider den besten Moment zum aufhören verpasst hat und das Ende unnötig (und nicht wirklich homogen zum Grundton der Geschichte) in die Länge zieht. Das ändert nichts am positiven Gesamturteil. Szenen, wie die im Trailerpark (ich fühlte mich hier stark an „Winters Knochen“ von Woodrell erinnert), werden wohl noch lange in meinem Gedächtnis haften bleiben und lassen auch für die Zukunft Großes von Nikitas erwarten – das wohl einmal mehr die Kleinen werden entdecken müssen …
Wertung: 94 von 100 TreffernAutor: Derek Nikitas
- Titel: Scheiterhaufen
- Originaltitel: Pyres
- Übersetzer: Jens Seeling
- Verlag: Jens Seeling
- Erschienen: 10/2010
- Einband: Broschiertes Taschenbuch
- Seiten: 365
- ISBN: 978-3-938973-11-0